Netzwerken von Fernbeziehungen
Eine Existenzgründung im Corona-Jahr sei mutig, wurde mir gesagt. Waghalsig sogar oder einfach nur unklug, hieß es. Retrospektiv will ich darüber nachdenken und dabei von meinem Startup-Unternehmen berichten, dessen Gründung zwar noch nicht ganz abgeschlossen ist, dessen Voraussetzungen aber im Jahr 2020 geschaffen wurden.
Ende 2019 hatte ich mit einem interessierten und sympathischen Professor der Fahrzeugtechnik der Technischen Hochschule Köln Kontakt aufgenommen. Das war noch vor Corona bzw. wurden entsprechende Berichte aus einer fernen chinesischen Provinz seitens der Politik da noch nicht ernst genommen. Grundsätzlich sind Professoren vielbeschäftigte und meistgefragte Leute, sodass ich mich glücklich schätzte.
Im Februar noch war ein persönliches Treffen in Köln möglich, bei dem man sich die Hände schüttelte, unbefangen in einem Besprechungssaal gegenübersaß und die Exponate, Schauvitrinen und das Versuchsfeld des Instituts betrachten, begreifen und besichtigen konnte.
Der gemeinsame Termin während einer der ersten Vorlesungen des Semesters wurde erst geplant, dann in Frage gestellt und schließlich abgesagt. Damals dachte man noch an eine rasch vorübergehende Infektionswelle, war man doch mit Pandemien unerfahren. Als Ersatz für eine Präsentation in der Vorlesung machte ich mich mit den Methoden vertraut, eine Kommentierung bzw. Vertonung des Foliensatzes, d.h. einen kleinen Vortragsfilm zu erstellen. Während ich mich mit dem Präsentationsprogramm des Marktführers vertraut machte, lernte ich, dass es unterschiedliche Lizenzen gibt und dass die Standardversion einen anderen Funktionsumfang hat als die Premiumversion, ohne das dies irgendwo ersichtlich oder dokumentiert wäre. Auch sind die Installationen je nach Betriebssystem unterschiedlich, wobei Verworrenheit und Beliebigkeit der Menüs und Untermenüs jeweils ähnlich ärgerlich sind. Da heißt es „probieren und täuschen“ – trial and error – als hätte man nichts Wichtigeres zu tun.
Der Professor erzählte in der Vorlesung von unserem gemeinsamen Projekt, das den Motorroller der Zukunft entwickeln soll und verteilte die Adresse zum YouTube-Video. Einige Studenten zeigten sich sehr interessiert an meinem Patent und hatten jedenfalls die Zeit, sich damit auseinanderzusetzen, was nicht jedem im Erwerbsleben Stehendem immer möglich ist.
Jedenfalls kam eine Gruppe von Studenten rund um Prof. Dr.-Ing. Betzler zusammen bzw. eben nicht, sondern man verabredete sich zu einer Videokonferenz. Videokonferenzen sind natürlich keine technischen Neuerungen. Sie waren jahrelang schon da, standen zur Verfügung, wurden aber eher widerwillig angewendet. Zu viele technische Schwierigkeiten wurden damit assoziiert. Im Frühjahr 2020 waren sie alternativlos, um eine gängige Ausdrucksweise aus der Politik zu verwenden. Jetzt musste man sich damit vertraut machen, da die meisten Arbeitnehmer, Schüler, Studenten und andere kurzerhand nach Hause und in die Heimarbeit geschickt wurden. Jetzt musste die Breitbandigkeit des Internetanbieters und das drahtlosen Netzwerks getestet und verifiziert werden. Eine Vielzahl von Programmen für Videokonferenzen, als da wären Skype, Webex, Zoom, GotoMeeting, , Adobe Connect, Microsoft-Teams und anderen, musste der Anwender installieren und zu verschiedenen Anlässen ausprobieren.
Per Videobild bekommen wir plötzlich und unvermittelt einen intimen Ausschnitt aus der Lebenswelt des Gegenübers. Wir sehen schmale Dachstuben mit Schrägen und Gauben oder Dachfenster, schwach beleuchtete Räume mit niedrigen Decken im Souterrain und Wohnzimmer-Schrankwände aus der Epoche der Kiefernmöbel, außerdem vergilbte Ölgemälde aus der Gründerzeit. Auch sehen wir lustige Relikte aus Kindheit und Jugend der inzwischen kaum älteren Studenten, beispielsweise als Legomodell den Millennium Falken von Han Solo, alias Harrison Ford, oder imposante Autokennzeichen aus Amerikas „Golden State“.
Daran musste zumindest ich mich gewöhnen, nicht nur weil es eine Ablenkung ist, sondern weil es nicht konform ist zum Anlass der Interaktion, der doch geschäftlicher und nüchterner Natur sein soll. Ein klein wenig fühlt man sich als Voyeur, ungeachtet dessen, dass der Videopartner es ein Stück weit selbst in der Hand hält, welchen schmalen Einblick in sein Privatleben er zu geben bereit ist. Prof. Betzler nutzte von Beginn an die Möglichkeit, eine repräsentative Innenaufnahme mit einer Art „Blue Screen“ videotechnisch in seinem Hintergrund einzublenden. Dass im Labor für Fahrwerktechnik des Instituts für Fahrzeugtechnik tatsächlich gerade einer jener legendären Ford GT auf dem Versuchsstand steht, auf den der Blick aus seinem Büro fällt, hätte ich beinahe geglaubt, wenn nicht gelegentliche Artefakte wie schwebende Kopfhörer die digitale Täuschung offenbart hätten.